Abseits

Der Discounter um die Ecke

Dialog am Sonnabendvormittag:

Kassiererin A steht wutschnaubend von ihrem Arbeitsplatz auf und brüllt mit ihrem breiten hanseatischen Akzent durch den Markt: "Frau Kruse, die Kasse ist im Arsch!"

Frau Kruse, beschwichtigend, aber nicht im Ansatz peinlich berührt: "Was genau ist denn das Problem mit der Kasse?"

"Dass sie im Arsch ist!!!"

Die Welt zu Gast bei Blitzmerkern

Der junge Mann mit dem wuchtigen gelb-rot-grünen Hut wirkt angespannt. Immer wieder schaut er auf die Uhr. Seine Haut ist so schwarz, wie mein Frühstückskaffee es selbst in meinen kühnsten Träumen nie gewesen ist. Ein gelbes Shirt mit einem dicken schwarzen Stern und dem kaum übersehbaren Schriftzug "Ghana" spannt über seinem Bauch und zwischen seinen Füßen balanciert er eine kleine Trommel. Auch sie ist farblich perfekt auf den Rest des Outfits abgestimmt.

Es ist kurz vor Vier und der Bus der Linie 3 quält sich nur langsam in Richtung Innenstadt. Ein paar Italiener sitzen ebenfalls in diesem Bus, einige mit offenen Bierdosen. Es riecht schon ein wenig nach Fanfest, klingt aber vielmehr nach Feierabend. Niemand spricht auch nur ein einziges Wort - ein weiteres Lehrstück hanseatischer Reserviertheit.

Plötzlich jedoch lehnt sich ein älterer Herr zum Afrikaner hinüber. Seit einigen Minuten schon schien es, als wolle er mit dem fremdartigen Fußball-Fan in Kontakt treten, als fehlten ihm aber schlicht und ergreifend die richtigen Worte für den Einstieg in einen gepflegten Small-Talk. Nun hatte er sie offensichtlich gefunden – und ließ den ganzen Bus teilhaben: "Bist für Ghana, was?!?"

Tip und Tap

Ich wusste doch, ich hatte dieses Bild zuvor schon einmal gesehen...

Tip-und-Tap-2006 Tip-und-Tap-1974

(Und wenn wir tatsächlich Weltmeister werden, kann meinetwegen auch ein 2,30 Meter großer Löwe ohne Beinkleid durch unser Viertel streunen - oder einer seiner Kollegen.)

WM-Euphorie

Mittlerweile glaube ich auch dran (obwohl die Lobhudelei des Herrn B. aus ARD nur schwer zu ertragen war). Und diese kollektive Lebensfreude streut sogar in alle Lebensbereiche - es geht nicht nur um schwarz-rot-gold und Ballacks Wade:
Heute, kurz bevor er beschwingt an den Fernseher enteilte, sagte mein Kollege B. etwas, das ihm in den letzten gemeinsam verbrachten vier Jahren nie eingefallen ist (oder das er wenigstens nicht geäußert hat): Saskia, Du siehst aber gut aus heute. Auf Nachfrage beschwor er, bei keinem Tippspiel verloren zu haben.

Und was ist mit "Dominus Iesus", Du Arsch?!?

Polnisch und katholisch - das gehört zusammen. Alles andere hat es daneben schwer. "Erst neulich wurde mein Sohn von seiner Lehrerin regelrecht zur katholischen Messe gezerrt. Und das, obwohl der Junge immer wieder schrie, dass er evangelisch ist", erzaehlt Piotr Zwak, der frühere Pastor von Mikolaiki (Nikolajken) in Masuren. Alltag der evangelischen Minderheit in Polen. (Daniel Kaiser, tagesschau.de .)

Daraus erklärt sich vielleicht die plötzliche Anspannung unseres Gastgebers am Donnerstagabend. Für einen lutheranischen Theologen scheint eine Ansprache des Papstes vor der protestantischen Gemeinde Warschaus ähnlich spannend zu sein wie das Finale einer Fußball-Weltmeisterschaft. Das polnische Fernsehen berichtet live aus der nur wenige Kilometer entfernten Trinitatis-Kirche, der Lutheraner sitzt erwartungsfroh auf seinem Drehstuhl - sogar ein Bier steht auf dem Schreibtisch. Der Anpfiff erfolgt pünktlich um 19:00 Uhr.

Wir-gucken-Papst

Was auch immer die gewandeten Gestalten auf dem Bildschirm von sich geben, was immer unser Gastgeber gerade über seinen Kopfhörer erfährt, er lebt es mit. "Gut gesagt" oder "ja" lauten zunächst noch die knappen Kommentare. Kommt der Ökumeneprozess an diesem Tag entscheidend voran? Teilt der alte Ratzinger gar hier und heute der protestantischen Welt mit, dass er sie künftig mit anderen Augen sehen werde?

(Nein.)

Unerwartet wird es laut im Raum. "Und was ist mit 'Dominus Iesus', Du Arsch?!?" Dem verärgerten Religionstheoretiker bleibt nur der schnelle Griff zum Bier. Die drei Nicht-Theologen schauen sich derweil entgeistert an. Beim Public Viewing wird man ähnlich derbe Zwischenrufe in den kommenden Wochen mit Sicherheit zu hören bekommen, aber wer rechnet schon mit so etwas, wenn ein künftiger Pastor sich einen Gottesdienst anschaut?

Vielleicht ist wirklich alles nur eine Frage der Leidenschaft. Vielleicht verroht der Mensch auch durch das intensive Studium der Bibel. Oder aus dieser Anekdote lässt sich überhaupt nichts ableiten…

Männer weinen nicht!

In diesem Jahrtausend haben mich genau zwei Ereignisse zum Weinen gebracht. Dabei wird den meisten Jungen doch bereits in frühester Kindheit vermittelt, dass der einzig akzeptable Wert pro Millennium deutlich darunter liegen müsse. Die Null muss stehen! Männer weinen nicht! Ein hinterhältiges Staubkorn unter der Kontaktlinse oder böse Zahnschmerzen seien ausdrücklich ausgenommen, einzig emotional bedingter Tränenfluss geht in diese sehr persönliche Statistik ein.

WeinenVor vier Jahren teilte mir meine langjährige Freundin mit, sie lege künftig keinen Wert mehr auf unsere Partnerschaft - umso mehr allerdings auf einen anderen Kerl. Nein, da konnte ich wirklich nicht mehr anders. Der zweite Anlass kommt vergleichsweise bescheiden daher: Ich habe am Samstag ein paar Tränen verdrückt, weil mein Verein die direkte Qualifikation für die Champions League verpasst hat. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Man rechnet ja mit vielem vor einem solchen Endspiel. Dass Ailton nicht seinen besten Tag erwischt. Dass der überragende Miroslav Klose irgendwann richtig steht und das Siegtor erzielt. Dass die Bremer Spieler sich dann vor der Gästeecke genüsslich von ihrem Anhang feiern lassen. Ein unerträgliches Freudenfest in Grün und Weiß. Man malt sich solche Bilder bis ins kleinste Detail aus, damit sie später weniger schmerzen. Aber dass es einen so sehr berührt, wie die enttäuschten Hamburger sich nach dem Abpfiff beim Publikum für die Unterstützung bedanken? Dass man mit feuchten Augen in der AOL-Arena steht, weil der Hamburger SV "nur" Dritter ist?

Erst ein einziges Mal überhaupt hatte ich wegen eines Fußballspiels geweint. Im Sommer 1986 hatte mich der Spielverlauf des WM-Finales komplett überfordert, Jorge Burruchagas Lauf zum späten Siegtreffer hatte ich mit gerade acht Jahren einzig kindliches Geflenne entgegenzusetzen. Ich dachte eigentlich, für so etwas sei ich mittlerweile zu alt. Einerseits ist es ja ganz schön zu wissen, dass dieses simple Spiel mich auch 20 Jahre danach noch auf der Gefühlsebene anspricht. Andererseits frage ich mich, was wohl als nächstes kommen wird.

Heule ich los, wenn Jens Nowotny nachher als Mitglied des deutschen WM-Kaders vorgestellt wird? Wenn das Eröffnungsspiel gegen Costa Rica torlos bleibt? Wenn die Espresso-Dose leer ist, obwohl ich mich doch den ganzen Tag darauf gefreut habe? Wenn die Heizkostenabrechnung kommt? Wenn ein halbwegs sympathischer Kandidat bei "Wer wird Millionär?" an der 16.000-Euro-Frage scheitert?!?

Nein, ich reiße mich natürlich zusammen, wie mir das als Knabe wieder und wieder eingebläut wurde. Was sollen denn beispielsweise die Menschen aus Kaiserslautern sagen, die demnächst am Montagabend auf den Betzenberg klettern müssen? Ganz zu schweigen natürlich von jenen, die ernsthafte Probleme haben.

Weiterbildung

Im Interesse unserer beiden Leser und primär im eigenen Interesse waren wir gestern auf einer Bloglesung. Es war eine gelungene Veranstaltung.
Als interessanter Nebenaspekt dieser Real-Life-Erfahrung war zu beobachten, wie die Teilnehmer mit ihrer Affinität zum Medium umgehen. Wir haben dabei einen völlig neuen Trend entdeckt: Während ich mir noch heute irgendwie privilegiert und auf der Höhe der Zeit vorkomme, wenn ich Unbedarften erkläre, was ein Weblog ist und dass ich so etwas nicht nur vom Hörensagen kenne, ist die Community da schon weiter. Man versucht bewusst, das Wissen um moderne Technik herunterzuspielen. Zwei kleine Anekdoten von gestern Abend:
  1. Die erstaunlich kurz gehaltene Einleitung des Herrn Paulsen beinhaltete die ironisierte Frage, ob wohl "normale" Leute anwesend seien, was weitgehend höflich beschwiegen wurde.
  2. Viel schöner war die zweite Glanzleistung des besagten Herrn, der beiläufig erwähnte, dass ein Autor beruflich als ['u:niks] Operator tätig sei. Wie charmant! Als handele es sich um ein ihm bisher unbekanntes Derivat einer Tütensuppe.
Und ich fühle mich schon wieder auf der Höhe der Zeit, wenn ich diesem neuen Trend des bewussten Herunterspieles der eigenen Techniklastigkeit eine eigene Bezeichnung aufdrücke: Undernerdment - ein echtes Wortgeschenk für einen schönen Abend. (Dass Dirk nur zwei Drittel davon erlebte, ist nicht den Vortragenden anzulasten, sondern nur dem Ruf seiner diversen anderen Talente: Gin Tonic und "Bandprobe".)

Themenkonferenz

Gespräch am Frühstückstisch.
"Einem unserer Leser geht es ja zu viel um Sex im Sauertopf."
Dirk zeigt Verständnis: "Es ist ja tatsächlich so, dass man überall und ständig mit diesem Thema konfrontiert wird, ob man will oder nicht. Man kann diesem riesigen Sex-Kometen ja gar nicht mehr ausweichen!"
Während ich noch nach einer angemessenen, beschwichtigenden Antwort suche, macht sich ein Grinsen über seiner Kaffeetasse breit:
"Nur diesen Sommer ist alles besser - der WM-Komet ist noch dicker!" und mümmelt zufrieden sein Weltmeisterbrötchen.

Footage


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freistuss


Zeit_fussball3


SPON

O-Töne, Teil 8

Das WM-Jahr hat begonnen, dem Fußball wird 2006 niemand ausweichen können. In unserer Küche befand Saskia schon heute:

"Du kochst mindestens so gut wie Tim Metzelder!"

Sauertopf

Fachblog für Befindlichkeiten.

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Online seit 7308 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 27. Mai, 17:58

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